Exkurs: Das epigenetische Prinzip

Das epigenetische Prinzip in der Entwicklungspsychologie

Dies ist eine Lektion – ein Exkurs – ohne Lernaufgabe. Er soll dir weitere Hinweise zu der Lektion „Eltern haften für ihre Kinder“ geben. Los geht es also mit dem epigenetischen Prinzip in der Entwicklungspsychologie. „Epigenetisch“ beschreibt die Aktivitätsänderungen von Genen zusätzlich zur Vererbung (Genetik). Das bedeutet also, dass der genetische Code eines Gens festgelegt ist, aber nicht immer zum Tragen kommt, wenn er nicht aktiv abgerufen wird. Der amerikanischen Psychologe Erikson beschreibt die Entwicklungsphasen nach dem epigenetischen Prinzip. Ich möchte mich hier auf die Themen Vertrauen und Misstrauen beschränken. Der bekannte Begriff „Urvertrauen“ geht auf Eriksons epigenetisches Prinzip zurück.

Die Entwicklungsphasen nach dem epigenetischen Prinzip

1. Lebensjahr:

„Ich bin, was man mir gibt“. Ein neugeborenes Kind 👶 ist ganz von der Mutter abhängig und muss lernen, dieser zu vertrauen und darauf zu hoffen, dass sie ihm gibt, was es braucht. Wird bereits hier kein „Urvertrauen“ aufgebaut, kann das gravierende Folgen haben. Wird diese Krise nicht gelöst, ist das ganze Leben des Menschen durch Zurückgezogenheit und Misstrauen geprägt.

2. und 3. Lebensjahr:

Autonomie, Scham und Zweifel: „Ich bin, was ich will“. Gefühle wie Liebe und Hass, Bereitwilligkeit und Trotz entwickeln sich nun. Das Kind kann jetzt festhalten und loslassen, sich als Schöpfer erleben oder zerstören. Es entwickelt sich auch das Gefühl von Scham und Zweifel. Eine Fehlentwicklung in dieser Phase entsteht, wenn diese negativen Gefühle auf den eigenen Willen bezogen werden. Eriksons epigenetisches Prinzip erklärt so die Entstehung von zwanghaften oder stark impulsiven Charakterzügen.

4. bis 6. Lebensjahr:

Initiative und Schuld: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“. Neben der Mutter treten nun auch der Vater und andere Kinder in die Welt des Kindes. Das Kind entwickelt ein Gewissen und lernt, was gut und böse ist. Es muss lernen, Triebe zu kontrollieren und Verbote zu akzeptieren. Ein weiterer Aspekt dieser Phase ist die Entwicklung der Fantasie und von Fantasiewelten, in denen es alles kann, mutig und allmächtig ist. Fehlentwicklungen in dieser Phase führen entweder zu einer rücksichtslosen oder grausamen Moral oder einer stark gehemmten Persönlichkeit und Schuldkomplexen.

6. Lebensjahr bis zur Pubertät:

Eifer, Leistung, Unterlegenheit oder Minderwertigkeit: „Ich bin, was ich lerne“. In dieser Phase beginnt das Kind die Welt durch Mitmachen, Nachmachen und Teilnehmen zu entdecken. Die Nachbarschaft und die Schule kommen als neue Umgebung hinzu. Das Kind erfährt Konkurrenz, Leistung und Wettkampf. Eriksons epigenetisches Prinzip bezeichnet das Gefühl, etwas Nützliches zu tun als „Werksinn“. Wird dieser durch Unter- oder Überforderung überstrapaziert, können Minderwertigkeitsgefühle entstehen oder die Tendenz, sich Anerkennung vor allem durch Leistung zu holen.

Pubertät und weitere Entwicklung:

Ich-Identität und Rollenverwirrung 🤯: „Ich bin ich selbst“. In dieser Phase muss der Jugendliche ein Selbstbild entwickeln und sich in der Gesellschaft verorten. Ist die Rolle zu stark fixiert, entsteht Intoleranz und Fanatismus. Findet der Jugendliche keine soziale Rolle, führt dies zu einem Rückzug aus der Gesellschaft. Wird der Konflikt erfolgreich bewältigt, entwickeln sich Treue und Solidarität.

Frühes Erwachsenenalter:

Intimität und Isolation: „Ich bin, was ich für andere Menschen bin“. Ist der junge Erwachsene in seiner Rolle gefestigt, sucht er nach Intimität und Nähe. Partnerschaft und Freundschaft sind wichtig in dieser Zeit. Der junge Mensch wird fähig zur Liebe. Fehlentwicklungen führen zur Selbst-Bezogenheit, sozialer Isolierung oder zur Selbstaufopferung.

Im Erwachsenenalter:

Zeugung, Entwicklung und Stagnation: „Ich bin, was ich leiste und was ich bereit bin zu geben“. In diesem Lebensabschnitt ist die Weitergabe von Wissen, Liebe und Leben zentral. Neben der Zeugung eigener Kinder wird es wichtig, sich um andere zu kümmern und Dinge zu tun, die auch in der nächsten Generation Bedeutung haben. Im Idealfall erlangt der Mensch die Fähigkeit zur Fürsorge, ohne sich selbst zu verlieren. Gelingt dies nicht, empfindet der Mensch Stagnation. Isolation und Ablehnung der Gesellschaft sind die Folge.

Spätes Erwachsenenalter:

Integrität und Verzweiflung: „Ich bin, was ich als sinnhaft empfinde“. Zum Ende des Lebens hin blickt der Mensch auf sein Leben zurück. Dieses anzunehmen und den Tod nicht fürchten zu müssen, ist das Ziel dieser Krise. Kann man nicht zufrieden auf sein Leben zurückblicken, sind Ängste und Verzweiflung die Folge. Wird die Krise erfolgreich gemeistert, erlangt der Mensch nach Erikson Weisheit und kann ohne Furcht dem Tod entgegensehen 🙏.

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